TÜBINGEN. In der bundesweiten Debatte über den richtigen Umgang mit der AfD stellt sich Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) klar auf die Seite des Verbands »Die Familienunternehmer« – und damit auch gegen Boykottaufrufe und öffentliche Kritik, die den Verband und einzelne Unternehmen in den vergangenen Tagen getroffen haben. Anlass ist eine Aussage der Verbandspräsidentin Marie-Christine Ostermann, die forderte, Vertreter der AfD nicht grundsätzlich vom Dialog auszuschließen.
Der Verband, in dem rund 6.500 familiengeführte Unternehmen zusammengeschlossen sind, hatte im Oktober zu einem Parlamentarischen Abend in einer Niederlassung der Deutschen Bank in Berlin erstmals auch Vertreter der AfD eingeladen. Präsidentin Ostermann sagte dem »Handelsblatt«, das »Kontaktverbot« zu AfD-Bundestagsabgeordneten sei aufgehoben worden. Das sorgte vor allem in sozialen Netzwerken für Kritik; einige Firmen wie Rossmann und Fritz-Kola erklärten ihren Austritt aus dem Verband.
Der Verband der Familienunternehmer veröffentlichte in dieser Woche eine Stellungnahme. Die Hoffnung, man könne ein Viertel der bundesdeutschen Wähler durch moralische Ausgrenzung zur Umkehr bewegen, sei nicht aufgegangen, sagte Präsidentin Ostermann. "Jetzt hilft nur noch die Auseinandersetzung mit den Inhalten der AfD, jenseits von schlichten Kategorisierungen in Gut und Böse." Mit Andersdenkenden zu diskutieren, heiße nicht, seine Positionen zu akzeptieren. Zugleich stellte Ostermann klar: Wir Familienunternehmer wollen keine Regierung mit AfD-Beteiligung." Das Weltbild der AfD passe nicht zur freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Grundüberzeugung des Verbands.
Palmer lobt Ostermann
Palmer verteidigte Ostermann in mehreren Facebook-Beiträgen deutlich. Er kenne die Verbandschefin »schon sehr lange« und habe sie bereits durch Tübingen geführt, schrieb der OB. Sie handle »klug und verantwortungsvoll« – und deshalb unterstütze er ihre Sichtweise. Für Palmer zeigt der Streit vor allem eines: eine Gesellschaft, die sich in »ritualisierte Empörung« flüchte. In der Debatte über den Umgang mit der AfD hatte auch dm-Chef Christoph Werner für eine kritische Auseinandersetzung geworben. Boykottaufrufe gegen dm oder die Kündigung von Veranstaltungsräumen für die Familienunternehmer lösten seiner Ansicht nach keine Probleme, so Palmer. »Sie vertiefen nur die Gräben.« Außerdem dürfe man nicht vergessen, dass familiengeführte Betriebe Verantwortung für Hunderttausende Beschäftigte trügen.
dm-Chef Werner hatte zuvor in der Süddeutschen Zeitung betont, dass er eine »polarisierende Brandmauer-Debatte« ablehne. Es sei wichtig, kritisch und gründlich über die AfD und deren Positionen zu sprechen – auch mit deren Wählerinnen und Wählern. Die Partei selbst und ihre demokratiefeindlichen Forderungen lehne er jedoch klar ab. Der Konzern hatte bereits vor Monaten seinen Austritt aus dem Verband der Familienunternehmer erklärt. Boykottaufrufe gegen dm wegen angeblicher Nähe zur AfD wies Werner zurück und plädierte – wie Palmer – für eine sachliche Auseinandersetzung. Auch Europa-Park-Gründer Roland Mack sprach sich gegenüber dem Südkurier für offene Gespräche aus: Man müsse bereit sein, Argumente auszutauschen, ohne Zustimmung zu signalisieren. »Wir müssen für Gespräche immer offen sein«, sagte er.
Palmer über die Realität in Unternehmen: »Viele wählen AfD«
Palmer argumentiert, dass Unternehmen zwangsläufig mit Abgeordneten sprechen müssten, die von Teilen ihrer eigenen Belegschaften gewählt wurden – auch wenn man deren Positionen ablehne. »Und ja, ein ziemlich großer Teil von ihnen wählt AfD«, schreibt Palmer. Das sei keine Sympathie, sondern eine Realität, die »man nicht einfach aus der Welt moralisieren« könne. Dass Ostermann und Werner klargemacht hätten, dass sie die Politik der AfD ablehnen, müsse ausreichen. Wer Dialog verweigere, stelle sich »über den demokratischen Prozess« – und über die Mitarbeitenden, so Palmer.
Dass Palmer die Konfrontation mit der AfD nicht scheut, zeigte zuletzt sein viel beachtetes Streitgespräch mit AfD-Landeschef Markus Frohnmaier. Nun fordert er, die Debatte auf eine rechtsstaatliche Grundlage zu stellen. Wer die AfD wirklich ausgrenzen wolle, müsse den Weg über das Bundesverfassungsgericht gehen und prüfen lassen, ob die Partei verfassungsfeindlich sei. »Wenn das zutrifft, kann sie verboten werden«, so Palmer. Alles andere sei »moralische Selbstgerechtigkeit« und stärke die AfD eher, als dass es ihr schade.
Appell für mehr Gelassenheit
In einem weiteren Posting warnt Palmer vor einem »Verlust von Maßstäben« in der öffentlichen Debatte. Dialogbereitschaft dürfe nicht als Verrat ausgelegt werden, wenn die inhaltliche Abgrenzung klar sei. Demokratie lebe von Diskussion, nicht von Abschottung. Er stellt die Frage, ob es wirklich sinnvoll sei, alltägliche Entscheidungen – etwa den Kauf einer Creme oder eines Drogerieartikels – mit politischen Loyalitätsbekundungen zu verknüpfen. Die Vorstellung, dass Kunden mit ihrem Einkauf quasi ein Wahlverhalten demonstrieren müssten, hält er für absurd und für ein alarmierendes Zeichen dafür, wie schnell Maßstäbe verloren gehen, sobald Debatten emotional überhitzen.
Palmer ruft deshalb zu mehr Gelassenheit auf. Unterschiedliche Sichtweisen seien normal, schreibt er, problematisch werde es erst, wenn das Bedürfnis, andere zu verurteilen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährde. Demokratie funktioniere nur, wenn Menschen miteinander sprechen – gerade dann, wenn sie nicht derselben Meinung sind. »Lasst uns ein bisschen runterfahren. Mehr zuhören. Weniger verurteilen«, schreibt der OB. Empörung dürfe nicht trennen, »wo Vernunft verbinden könnte«. (GEA)


