TÜBINGEN. Leicht hat sich der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer seine Entscheidung zur AfD-Demo nicht gemacht. Und nach wie vor sei er nicht sicher, ob sie richtig ist, sagt er im Pressegespräch. Letztendlich habe ihn aber der Gedanke angetrieben, Schaden von der Stadt abzuwenden. Wie berichtet plante die AfD eine Kundgebung mit Infostand in Tübingen. Angemeldet hatte sie 35 Personen. Zuerst wollte sie damit auf den Holzmarkt. Das lehnte aber die Polizei aus Sicherheitsgründen ab. Der Holzmarkt sei mit seinen vielen kleinen Gassen nicht zu sichern. So kam es zum Standort auf der Karlstraße beim Zinserdreieck. Zu keinem Zeitpunkt sei das als Provokation gegenüber dem Epplehaus gedacht gewesen, betont Palmer. Die AfD habe sich mit Polizei und Ordnungsamt auf diesen Standort geeinigt.
Schnell formierte sich in Tübingen Widerstand. Das Bündnis gegen Rechts Reutlingen-Tübingen und die Seebrücke kündigten sich für Samstagmorgen um 8 Uhr an. Für 10 Uhr rief ein breites Bündnis aus Parteien und Organisationen, darunter die Omas gegen Rechts, Fridays for Future, DGB, SPD, Grüne, Geschichtswerkstatt Tübingen und Vivat Lingua zur Gegendemonstration auf.
Anruf vom Zinser-Geschäftsführer
Anfang dieser Woche hat Palmer dann einen Anruf von Zinser-Geschäftsführer Christian Klemp erhalten. Klemp befürchtete große Umsatzverluste zu Beginn des Sommerschlussverkaufs, sollte am Samstag die AfD vor den Türen seines Geschäfts auf Gegendemonstranten treffen. »Er ging davon aus, dass er das Haus schließen muss«, berichtet Palmer. Der Oberbürgermeister konnte die Befürchtung gut verstehen. »Die Bürgerschaft wird mit Sicherheit eine viele Tausend Köpfe starke Gegendemonstration auf die Beine stellen. Das wird den Busverkehr im Stadtzentrum zum Erliegen bringen. Ein großer Polizeieinsatz wird notwendig sein, um die beiden Gruppen zu trennen.« Er habe nicht nur mit Umsatzeinbußen in sechsstelliger Höhe für den Tübinger Handel gerechnet, sondern im schlimmsten Fall auch mit Verletzten.
Sein Vorschlag an die AfD, auf einen für den Handel weniger kritischen Tag auszuweichen, lehnte die Partei allerdings ab. Der Göppinger Landtagsabgeordnete Sandro Scheer bot aber an, die Kundgebung abzusagen, wenn es stattdessen eine Podiumsdiskussion mit Palmer geben werde.
Absprache mit Fraktionsvorsitzenden und Weggefährten
Als dieser Vorschlag einging, befand sich Palmer gerade in Wien. Die Entscheidung musste schnell gehen. Dennoch habe er Fraktionsvorsitzende und Weggefährten angerufen, um sich eine Meinung bilden zu können, erzählt der Oberbürgermeister. Am Ende habe er sich für die Diskussion entschieden, weil er die Verantwortung als Stadtoberhaupt habe, »wie der Samstagmorgen in Tübingen verläuft«.
Geplant ist die Diskussion Anfang Herbst. Der genaue Zeitpunkt steht ebenso wenig fest wie der Ort. Was letzteres angeht, werde er sich mit der Polizei zusammensetzen, sagt Palmer. Eine Halle lasse sich jedenfalls einfacher sichern als eine Demonstration im öffentlichen Raum. »Politisch ist allerdings ein Schaden zu befürchten«, gibt Palmer zu. Eine solche Podiumsdiskussion könne als Bühne für die AfD oder als Beitrag zu ihrer Normalisierung verstanden werden.
Kritik aus der SPD
Genau diese Kritik wurde auch sofort geäußert, kaum war die Meldung in der Welt, dass Palmer mit der AfD diskutieren will. So kritisierte die SPD-Gemeinderatsfraktion die Entscheidung scharf. »Die AfD beißt sich an unserer Stadt die Zähne aus und das ist gut so. Mit der angemeldeten Kundgebung hat die AfD nun versucht, hier einen Fuß in die Tür zu kriegen. Der Oberbürgermeister stößt die Tür für die AfD mit seiner Entscheidung nun weit auf«, schrieb Florian Zarnetta in einer Pressemitteilung.
Das seien »berechtigte Bedenken und Sorgen« antwortet darauf Palmer. »Es kann schon sein, dass das ein Vorteil für die AfD ist«, so der OB weiter. »Aber ich fühle mich ganz gut gerüstet. Außerdem gibt es auch Menschen, die sagen, die AfD ist so groß geworden, weil man nicht mit ihr spricht.« Klar ist dem OB auch, dass es bei der Diskussion zu Protesten und Blockaden kommen wird. Insofern sei es nicht sicher, ob sie überhaupt stattfinde.
Das »Bündnis für Demokratie und Menschenrechte« im Landkreis Tübingen, das die Gegendemonstration organisiert hat, freut sich jedenfalls als erstes über die Absage der AfD, stellt aber auch die Frage nach dem politischen Preis für diesen Rückzug: »Wir kritisieren Herrn Oberbürgermeister Boris Palmer für den Preis seiner Einmischung in die Auseinandersetzung zwischen demokratischer Zivilgesellschaft und AfD.« Demonstriert wird am Samstag um 10 Uhr trotzdem, kündigte das Bündnis an. Damit hat auch Palmer gerechnet. Aber das werde nicht mehr so groß ausfallen, ist er sich sicher. »Die große Zahl der Bürger wird einkaufen gehen.« (GEA)