TÜBINGEN. Tomatenpflanzen verfügen über ein ausgeklügeltes System, um sich gegen Fressfeinde zu verteidigen: Das Signalpeptid Systemin löst in der Pflanze eine Kaskade von Abwehrreaktionen aus. Ein Forschungsteam der Universität Tübingen und der Universität Hohenheim in Stuttgart hat nun gezeigt, dass Tomatenpflanzen über einen bislang unentdeckten natürlichen Gegenspieler namens »antiSys« verfügen. Er verhindert, dass das Abwehrsystem überreagiert, was negative Folgen für das normale Wachstum und die Vermehrung der Pflanze nach sich ziehen würde.
Diese Entdeckung erweitert das Verständnis der pflanzlichen Immunität und zeigt, dass nicht nur Abwehrsignale, sondern auch deren natürliche Gegenspieler entscheidend für das Gleichgewicht zwischen Wachstum und Schutz sind.
Pflanze wird schwer verdaulich
Nachtschattengewächse wie Tomatenpflanzen besitzen ein erstaunlich fein abgestimmtes Abwehrsystem, das sie vor Schädlingen und Krankheitserregern schützt. Es löst in den Zellen der Pflanze Abwehrreaktionen aus, wenn etwa Insekten Fraßschäden verursachen. Dann produzieren sie Substanzen, die gezielt die Verdauung ihrer Fressfeinde beeinträchtigen, sodass diese die aufgenommenen Nährstoffe nicht verwerten können. Doch wie beim menschlichen Immunsystem ist eine dauerhafte oder unkontrollierte Aktivierung gefährlich. Sie kann das normale Wachstum und die Entwicklung stark beeinträchtigen.
Das Forschungsteam hat nun einen bislang unbekannten Gegenspieler von Systemin entdeckt: das Peptid antiSys. Dieses kurzkettige Protein ähnelt in seiner Struktur dem Systemin, wirkt aber als Hemmstoff für den hochempfindlichen Systemin-Rezeptor SYR1. »AntiSys bindet zwar an den gleichen Rezeptor wie Systemin, aber ohne ihn zu aktivieren. Da antiSys in gesunden Pflanzen überwiegt, besetzt es den Rezeptor und stellt so sicher, dass das Immunsystem inaktiv bleibt«, erklärt Professor Andreas Schaller von der Universität Hohenheim. »Wird die Pflanze jedoch von Insekten befallen, wird Systemin in großen Mengen gebildet und freigesetzt. Es kommt zu einem Verdrängungswettbewerb am SYR1-Rezeptor, Systemin bindet, der Rezeptor wird aktiviert und die Immunreaktionen werden ausgelöst.«
Wie entscheidend antiSys ist, zeigen Pflanzen, denen dieses Peptid fehlt. Mithilfe der CRISPR/Cas9-Technologie erzeugten die Forschenden Mutanten, die kein antiSys bildeten. Diese Pflanzen wuchsen deutlich schlechter, bildeten weniger Früchte und zeigten teils drastische Fehlbildungen. »Diese Effekte beruhen auf der unkontrollierten Aktivierung des Immunsystems. Fehlt der Gegenspieler, dann reichen schon kleinste Mengen an Systemin aus, um den Rezeptor zu aktivieren und die Abwehrreaktionen auszulösen«, so der Leiter der Studie, Professor Georg Felix vom Zentrum für Molekularbiologie der Pflanzen (ZMBP) der Universität Tübingen. »Wenn wir diese Rezeptoren jedoch ebenfalls entfernen, bleiben die Pflanzen trotz fehlendem antiSys gesund.«
Zudem fanden die Forschenden antiSys auch in verwandten Nachtschattengewächsen wie Aubergine, Kartoffel oder Paprika, was auf eine wichtige, in der Evolution seit Langem bewahrte Funktion schließen lässt. »Unsere Entdeckung wirft die Frage auf, ob ähnliche Gegenspieler auch in anderen Pflanzenarten existieren – und ob sie sich gezielt nutzen lassen, um Kulturpflanzen widerstandsfähiger, aber zugleich wachstumsstark zu machen«, sagt Professor Felix.
Die Forschenden sehen Parallelen zum menschlichen Immunsystem, wo spezielle Antagonisten die Wirkung von aktivierenden Zytokinen dämpfen, um Entzündungsreaktionen im Gleichgewicht zu halten. Fehlt der Antagonist, ist die Balance gestört und es kommt zu Autoimmunerkrankungen, wie beispielsweise rheumatoide Arthritis, oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. (eg)