BERLIN/TÜBINGEN. Es war eine jener Sendungen, bei denen sich Moderatorin Sandra Maischberger zurücklehnen konnte – ihre Gäste lieferten sich einen Schlagabtausch, bei dem sie allenfalls als eine Art Ringrichterin gefragt war. Boris Palmer, parteiloser Oberbürgermeister von Tübingen und der Bundesvorsitzenden der Jusos, Philipp Türmer, sorgten dabei für eine der wohl lautesten Gesprächsrunden der vergangenen Monate.
Harmlos war nur der Einstieg in das Gespräch. Maischberger fragte den wohl bekanntesten OB Deutschlands, ob er einen Tipp an Türmer für die anstehende Diskussion hätte. »Ich bin wohl am wenigstens dazu geeignet, jemanden zu sagen, er solle zurückhaltend sein«, sagte Palmer lachend. Aber es es dann inhaltlich um die geplante Bürgergeldreform ging, brachten sich die Kontrahenten in Stellung. Türmer kritisierte die neuen Sanktionsmöglichkeiten scharf: Es sei »falsch«, Menschen Leistungen und Miete zu streichen, nur weil sie einen Brief vom Jobcenter nicht öffnen. So treibe man Betroffene »in die Wohnungslosigkeit«. Palmer hielt sofort dagegen. Türmer mache sich zum »Popanz«. Die Behörden seien keine »mitleidlosen, unbarmherzigen Trottel«. In Tübingen werde jedem Obdachlosen eine Unterkunft angeboten – wer auf der Straße lebe, lehne sie bewusst ab.
Finanzkrise, Rentenpaket, Generationengerechtigkeit
Schnell weitete Palmer das Thema aus – und schaltete auf Alarmmodus. Deutschland stecke in der »schlimmsten Industriekrise seit Gründung der Republik« und zugleich in der »schlimmsten Finanzkrise der Kommunen«. Jetzt müsse der Staat sparen, Belastungen für Arbeitnehmer und Betriebe müssten sinken. Die Rentenpolitik der Ampel sei nicht tragfähig: Der Beitragssatz werde in vier Jahren von 18,6 auf 20 Prozent steigen. »Das ist Politik gegen Mathematik«, so Palmer.
Türmer widersprach – vehement. Rentenpolitik sei auch Sozialpolitik: »Ich möchte, dass meine Generation noch von dieser Rente leben kann.« Das Rentenniveau liege gerade einmal 100 Euro über der Armutsgrenze. Es brauche eine grundlegende Reform: Beamte, Selbstständige und Politiker sollten ins gesetzliche System einbezogen werden, Besserverdienende stärker belastet. Zumindest bei der Vermögensfrage gab Palmer ihm recht.
Streit eskaliert bei Themen Migration und Kriminalität
Als die Migrationspolitik zur Sprache kam, wurde der Tonfall noch rauer. Türmer verwies auf seine Heimatstadt Offenbach, die mit einem Migrantenanteil von 65 Prozent »die sicherste Großstadt Hessens« sei. Der Zusammenhang »mehr Migration gleich mehr Kriminalität« stimme nicht. Palmer nannte das einen »billigen Taschenspielertrick«. Es gehe ihm nicht um Migranten generell, sondern um überproportional hohe Kriminalitätszahlen bei bestimmten Gruppen von Geflüchteten. Irakern, Syrern und Afghanen attestierte er mit Verweis auf die polizeiliche Kriminalstatistik eine »sechsfache höhere Quote« als ihren Bevölkerungsanteil.
Türmers Hinweis, Armut und Perspektivlosigkeit seien oft Hauptursachen von Gewalt, ließ Palmer nicht gelten. Wer die Realität bestreite, treibe Wähler »in die Arme der AfD«. Moderatorin Maischberger musste da erstmals eingreifen. Als Palmer meinte, nur die AfD sei »noch weniger realistisch als Herr Türmer und die Jusos«, rügte sie ihn: »Herr Palmer, Sie werden schon wieder persönlich.«
Palmer wirbt für Koalition von CDU und AfD im Osten
Die Debatte erreichte ihren Höhepunkt, als es um den Umgang mit der AfD ging. Palmer warnte eindringlich vor Umfragewerten von 40 Prozent in den ostdeutschen Bundesländern. Wenn alle anderen Parteien gemeinsam regieren würden, drohe am Ende sogar »eine absolute Mehrheit der AfD«. Dann präsentierte er seinen Vorschlag: eine CDU-geführte Koalition mit der AfD – »begrenzt in Verantwortung«, kontrolliert durch CDU-Ministerpräsident und CDU-Verfassungsminister. Man müsse »pragmatisch« sein und »schauen, was passiert, wenn die mitregieren«.
Für Türmer ein Tabubruch. »Das ist sehr nahe an dem, was man Ende der 1920er und Anfang der 1930er über die NSDAP behauptet hat«, warnte er. Die AfD sei »eine sehr gefährliche Partei«. Statt über Koalitionen zu reden, müsse man ein Parteiverbotsverfahren einleiten – »Nägel mit Köpfen«. Im Gegensatz zu Türmer hielt Palmer ein Verbot vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe für chancenlos, forderte aber: Wenn man darüber spreche, dann »so schnell wie möglich«, um endlich Klarheit zu haben. »Nichts ist schlimmer, als jahrelang zu reden und nichts zu machen.«
Nach Ausstrahlung der Sendung holte Palmer via Facebook zum Nachschlag aus. »Nach dem Versuch, des Juso-Vorsitzenden, überproportionale Gewaltkriminalität von Geflüchteten zu bestreiten, die Bürgergeldreformen mit Obdachlosigkeit in Verbindung zu bringen und den geplanten Anstieg der Rentenbeiträge als Politik für die Arbeitnehmer zu verklären«, hätte er nun doch noch eine Empfehlung an Türmer in Form eines Zitats von SPD-Ikone Kurt Schumacher, einem der Gründungsväter der Bundesrepublik: »Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit.« (GEA)


