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Makel: Alleinerziehende Mutter in Reutlingen

Verein »Frauen am Werk« richtet Fokus mit großer Diskussionsrunde auf wohnungssuchende Frauen

Alleinerziehende
Bisher muss beispielsweise eine alleinerziehende Mutter bis zu 25 Prozent ihres Einkommens aus Ausbildung oder anderen Tätigkeiten an das Jugendamt abgeben. Foto: Marcel Kusch
Bisher muss beispielsweise eine alleinerziehende Mutter bis zu 25 Prozent ihres Einkommens aus Ausbildung oder anderen Tätigkeiten an das Jugendamt abgeben.
Foto: Marcel Kusch

REUTLINGEN. Sind Frauen in Reutlingen bei der Wohnungssuche benachteiligt? Welche Schwierigkeiten haben Mütter mit Kindern, an eine geeignete und bezahlbare Wohnung zu kommen? Wie ist die Situation älterer Frauen auf dem Wohnungsmarkt? Der Verein »Frauen am Werk« hat am Montag in der Reutlinger Volkshochschule mit einer großen Diskussionsrunde den Fokus auf ein sehr spezielles Thema gelegt. Der wichtigste Ansprechpartner und Akteur für sozialen Wohnraum in Reutlingen fehlte jedoch: Die Wohnungsgesellschaft GWG hat sich wenige Stunden vor Beginn der Veranstaltung abgemeldet. Auf GEA-Nachfrage hieß es, dass es leider kurzfristig zu einer »Terminkorrelation« gekommen sei.

»Für mich ist das ein Signal«: Ulrike Droll vom Vorstand der »Frauen am Werk« mochte ihre Aussage nicht näher kommentieren. »Ich bin zu enttäuscht.« Seit Anfang Februar habe die GWG vom Termin gewusst.

4.500 Interessierte verzeichnet

Die Wohnungsgesellschaft wäre zweifellos ein interessanter Informant gewesen. Auf GEA-Nachfrage im Nachgang hieß es, dass auf der Liste der Wohnungsgesuche bei der GWG aktuell rund 4.500 Interessierte verzeichnet sind. Allein diese Zahl zeigt – geschlechtsunabhängig – das Ausmaß der Wohnungsnot.

»Vor allem junge Mütter haben ein großes Armutsrisiko«

Dass es an billigem Wohnraum fehlt, darüber waren sich alle einig in der Runde: Fachleute aus der Wohnungswirtschaft, der Stadtverwaltung, dem Job-Center und Vertreter von Privatinitiativen sowie Mitglieder des Gemeinderats.

GEA-Lokal-Chefin Kathrin Kammerer moderierte die vielschichtige Diskussion, in der schnell deutlich wurde, dass das Problem an sich nicht geschlechterspezifisch ist. Im Gegenteil. Manche Vermieter bevorzugen sogar Frauen.

Eklatant betroffen ist jedoch eine besondere Gruppe von Frauen: »Am schwersten haben es Alleinerziehende«, sagt Michael Wandrey, Vorstand des Vereins »Wohnwerk«. Sie seien die Gruppe mit der geringsten finanziellen Ausstattung. Eine Alleinerziehende mit Kind bekomme weniger Geld als zwei Alleinstehende in einer Bedarfsgemeinschaft: Im »Wohnwerk« haben sich Soziale Träger und Stadt zusammengetan, um (derzeit 136) Wohnungen anzumieten für Menschen, die aufgrund ihrer finanziellen Lage auf dem Wohnungsmarkt sonst »am Ende Schlange stehen«, erläuterte Wandrey. Demografisch sieht er derzeit eine weitere Problemgruppe erwachsen: ältere Frauen, die barrierefrei allein leben wollen, aber aufgrund ihrer Erwerbsbiografie nicht das nötige Geld aufbringen. Er sieht »einen Mangel in der Stadt, den man angehen muss«.

Junge Mütter haben großes Armutsrisiko

Bei Undine Zimmer im Job-Center ist die Klientel gut zur Hälfte weiblich im Landkreis. Darunter ist die größte Gruppe alleinerziehend oder Frauen, die in Lebensgemeinschaften mit Kindern leben. »Vor allem junge Mütter haben ein großes Armutsrisiko.«

Weniger Rente, weniger Lohn und Gehalt, Erziehungspausen: 4.535 Frauen beziehen insgesamt Leistungen im Landkreis. Frauen haben generell ein größeres Risiko in Armut zu landen. Wohnungssuche ist in prekären Verhältnissen seit Langem ein zentrales Thema. Die Wohnungsnot sei zudem längst auch in der Mittelschicht angekommen, führte Zimmer weiter aus.

Heike Hein von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) berichtete von rund 200 Frauen jährlich im Landkreis, die Hilfe bei der Beratungsstelle für Wohnsitzlose suchen. Mit dem Elisabeth-Zundel-Haus hat man ein Angebot speziell für Frauen. Die meisten seien zwischen 18 und 25 Jahre alt und kämen, nachdem sie aus der Jugendhilfe entlassen, aus dem Elternhaus herausgeworfen wurden oder weil sie es nicht mehr in der Beziehung aushielten. Meist seien die Betroffenen zusätzlich mit Sucht oder psychischer Erkrankung belastet.

Zögern, bevor Hilfe angenommen wird

Ihnen stünden bei der AWO allerdings rund dreimal so viele Männer ohne Meldeadresse gegenüber. Was nichts heißen muss: Frauen zögern laut Hein oft lange, ein Hilfsangebot anzunehmen. Und sie kämen leichter unter. Beziehung gegen Dach über dem Kopf heißt dann der Deal.

Jasmin Rentschler vom Netzwerk Ambulante Wohnungssicherung (NAWO) berichtete von 122 Frauen, die 2023 Hilfe gesucht haben – in etwa so viele wie auch die Männer. Die Klientel ist breit gefächert: von Arbeitslosen bis zu Menschen mit Job, die wegen Eigenbedarfskündigung ihre Wohnung verlieren. Auch nach ihrer Wahrnehmung gibt es einen zentralen Hemmschuh bei der Wohnungssuche: »Kinder sind weniger toleriert als Haustiere.« Stadt und Landkreis finanzierten das Angebot, das Wohnungslosigkeit verhindern soll.

Beide Frauen rieten dringend, mehr in Prävention zu investieren. Die Wohnungsnotfallhilfe sei »eng gestrickt« in Reutlingen.

Mangel an Alternativen: Stephanie Gohl, stellvertretende Geschäftsführerin des Diakonieverbands Reutlingen, weiß, dass auch Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt werden, oft in den prekären Verhältnissen wohnen bleiben.

GWG fehlt Transparenz

Sollten solche Personengruppen bevorzugt bei der GWG-Wohnungsvergabe bedacht werden, fragte Moderatorin Kammerer. Gohl bejahte dies, kritisierte aber fehlende Transparenz bei der GWG: »Keinem ist klar, wie die Auswahl stattfindet. Das ist seit Langem ein Thema.«

»Vermietern geht es meist nicht ums Geldanhäufen«

Thomas Hauser betrachtet als Wohnraumbeauftragter der Stadt das Geschehen auf dem Markt, analysiert Bedarf und Angebot. Zu wohnungssuchenden Frauen gebe es keine besonderen Erkenntnisse oder Statistiken. Es sei jedoch davon auszugehen, dass Frauen es schwerer hätten, allein schon von daher, weil sie im Schnitt um die 18 Prozent weniger verdienen. Bekannt ist auch ihm: »Alleinerziehende haben es am schwersten.« Aber auch Migrationshintergrund sei eine Erschwernis. Angesichts der Tatsache, dass in 42 Prozent der Haushalte in Reutlingen nur eine Person wohnt, gebe es insbesondere Mangel an kleinen bezahlbaren Wohnungen.

Julian Wieshoff, Geschäftsstellenleiter von Haus und Grund, sprach für die Seite derjenigen, die in Reutlingen den maßgeblichen Wohnraum zur Verfügung stellen: private Vermieter. Ihnen ginge es meist nicht ums Geldanhäufen, sondern um »lange gute Mietverhältnisse«. Manche nähmen gerade Menschen in Not auf. »Vermieter sind auch Menschen.« Er habe auch noch nie gehört, dass einer keine Frau wolle. Aber Vermieter möchten »Kontrolle«. Wenn die Stadt etwa Wohnungen für Geflüchtete anmiete, wolle sie entscheiden, wer einzieht. »Die Stadt macht, was sie will. Das verunsichert.«

Erneut auf der Tagesordnung

Was muss die Stadt tun, um Wohnungsbau insbesondere im vergünstigten Segment zu fördern? Der Gemeinderat hat das Thema am  Donnerstag nach mehrmaliger Vertagung erneut auf der Tagesordnung. Auf Kathrin Kammerers Nachfrage räumte Hauser ein, dass das bisherige Modell den Bauherren »zu viel abverlangt«, sprich der Zwangs-Anteil an günstigem Wohnraum zu hoch ist.

Potenzial biete der hohe Leerstand in der Stadt: Viele Eigentümer seien nicht auf das Geld angewiesen, andere scheuen Scherereien mit den Mietern.

»Die Politik hat den demografischen Wandel verschlafen«

Zuletzt verfing sich die Runde in einer wohnungspolitischen Allgemeindiskussion. Das lag an den anwesenden Gemeinderäten, die in der Ratssitzung am morgigen Donnerstag über die neuen Leitlinien der Reutlinger Wohnungspolitik abstimmen sollen und die Gunst der Stunde nutzten, Statements abzugeben.

Njeri Kinyanjui (Grüne und Unabhängige) findet, die Politik habe, was das Wohnungsangebot betrifft, den »demografischen Wandel verschlafen«. Schon frühzeitig hätte man mehr Geschosswohnbau fördern sollen, auch in den Reutlinger Teilorten. Rüdiger Weckmann (Linke Liste) forderte in der Wohnungspolitik »das Primat der Politik: Der Markt regelt es nicht«. Er hofft in Reutlingen unter anderem auf »Neustart« mit den beiden neuen GWG-Geschäftsführern.

Auch gut Verdienende haben Probleme

Lange Bindungsfristen für Sozialwohnungen, hohe Quoten für preisgünstigen Wohnbau, Maklerprovisionen, die Vermieter zahlen müssen: Sarah Zickler (FDP) sieht Verhinderung auf allen Ebenen. »Die Politik hat viel kaputtgemacht.« Privater und öffentlicher Markt müssten zusammenarbeiten. Sie selbst habe ihrer Zeit eine schwierige Wohnungssuche erlebt – gut verdienend zwar – aber alleinerziehend mit zwei Kindern und mit Hund und Katz – und sie sieht bei diesem Thema besonderen Handlungsbedarf: »Da müssen wir ran – als Gesellschaft und als Stadt.«

SPD-Rätin Edeltraut Stiedl will sich am Donnerstag unter anderem für langfristige Sozialbindung starkmachen. Als Wohnraumaktivierungsprogramm empfahl sie, Wohnungstausch zu forcieren. Etwa in Orschel-Hagen. In den in den 60er-Jahren hochgezogenen Häusern lebten unterdessen viele alte Frauen nach dem Tode ihres Mannes und dem Auszug der Kinder allein in großen GWG-Wohnungen. »Die GWG bemüht sich unheimlich«, will FWV-Gemeinderat Rat Erich Fritz wissen. Der Tausch sei aber häufig unattraktiv, weil die neuen Zwei-Zimmer-Wohnungen oft teurer wären als die alte Vierzimmer-Wohnung. (GEA)