REUTLINGEN. »Eine Meinungsfreiheit, bei der ich ständig denken muss, das kostet mich nun Tausende Euro, ist keine mehr.« Der Reutlinger AfD-Stadt- und Kreisrat Hansjörg Schrade äußert an diesem Montagmittag im Reutlinger Amtsgericht deutlich, dass er die Anklage gegen ihn nicht nachvollziehen kann. Schrade wird - wie eine Woche zuvor Enrico Schulz - wegen Volksverhetzung verurteilt. Beide haben im Februar 2022 auf ihren Telegram-Kanälen einen Brief eines Reutlinger Polizisten an einen Richter geteilt. In diesem Brief kritisiert der Polizist die Corona-Maßnahmen und zieht Parallelen zwischen dem Umgang mit Ungeimpften und der Juden-Verfolgung im Dritten Reich.
Für Schrade war dieser Brief »von großer Brisanz«, wie er Richterin Natalia Gertner erklärt. Da er gezeigt habe, »dass selbst in der achso staatstragenden Polizei die Verunsicherung wächst«. Dies habe er mit seinen damals 100 bis 200 Followern auf Telegram teilen wollen. Keineswegs habe er dagegen den Holocaust verharmlost, »denn da gibt es nichts zu vergleichen und nichts zu relativieren«. Der Zuschauerraum im Amtsgericht ist erneut proppevoll. Viele Kritiker und Gegner der Corona-Maßnahmen hören zu.
»Da gibt es nichts zu vergleichen und nichts zu relativieren«
Staatsanwalt Lukas Bleier sieht das - wie auch im Verfahren eine Woche zuvor - anders. Durch das Weiterleiten des Briefes sei das eigene Schicksal »überhöht« und der Holocaust »bagatellisiert« worden. Der Inhalt der Briefes sei zudem geeignet gewesen, den Lesern »etwas an die Hand zu geben, um sich als legitimes Opfer zu sehen«. Und somit dazu, den öffentlichen Frieden zu stören. Schrades Anwältin Viktoria Dannenmaier dagegen betont, dass es dem AfD-Politiker »um den bildlichen Vergleich mit dem Nichts-Tun« vieler Menschen im Dritten Reich gegangen sei. Damals wie während Corona seien Menschen ausgegrenzt worden. Im besagten Brief gebe es »keine Appelle zum Rechtsbruch«, eine potentielle Störung des öffentlichen Friedens liege also nicht vor. »Es ging in diesem Fall nur um die Verdeutlichung von Missständen in der Gesellschaft.«
Richterin Gertner schließt sich dann - wenig überraschend und wie schon eine Woche zuvor - der Argumentationslinie des Staatsanwalts an. Schrade wird schuldig gesprochen, er muss 50 Tagessätze á 110 Euro zahlen. Gertner sieht im Weiterleiten des Briefes »eine Übertreibung der eigenen sogenannten Opferrolle« und betont an Schrade gewandt: »Sie hätten Ihren Unmut auch anders äußern können.« Schrade will das Urteil nicht akzeptieren und Berufung einlegen, sagt er dem GEA später.
»Sie hätten Ihren Unmut auch anders äußern können«
Das Verfahren gegen den Urheber des Briefes wurde übrigens eingestellt. Das Landeskriminalamt konnte laut Staatsanwalt Bleier »nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, dass die Veröffentlichung durch Hansjörg Schrade mit Wissen und Billigung des Verfassers erfolgt war«. Für den Tatbestand der Volksverhetzung muss eine potentielle Störung des öffentlichen Friedens vorliegen. Und diese ist erst gegeben, wenn der Inhalt mehrere Rezipienten erreicht.
Ein Thema, das am Rande der Verhandlung mehrfach diskutiert wird: Auch in linken und linksextremen Kreisen werden oft Vergleiche zur Nazi-Zeit gezogen. So ist der Hauptslogan der Antifa auf Anti-AfD-Demos »Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda«. Das Offene Treffen gegen Faschismus und Rassismus für Reutlingen und Tübingen (OTFR), vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingeschätzt, hat jüngst »Palmer = Rassist« auf die Straßen in Tübingen gesprüht. Auf Demos gegen Rechtsextremismus wurden AfD-Anhänger immer wieder als Nazis bezeichnet. Handelt es sich hierbei auch um Volksverhetzung?
Staatsanwalt Bleier verneint und erklärt dem GEA die Gesetzeslage: Für eine Strafbarkeit nach Paragraf 130 Absatz 3 muss eine Bezugnahme zum von den Nazis begangenen Völkermord vorliegen. »Deshalb handelt es sich bei einem solchen Nazi-Vergleich nicht um Volksverhetzung.« Dieser könne vielmehr als Beleidigung gewertet werden. (GEA)