REUTLINGEN. Mit einer Wandvitrinenausstellung im Rathaus erinnert das Stadtarchiv an die Rückkehr des Marienkirchen-Turmengels 1950. Vor 75 Jahren, am 18. Juli 1950, kehrte ein herausragendes Reutlinger Wahrzeichen nach langer Abwesenheit an seinen jahrhundertealten Stammplatz zurück: Der vergoldete Engel der Marienkirche konnte sich fortan wieder hoch auf der Turmspitze nach dem Winde drehen. Die vielfach als städtischer Schutzengel verstandene Skulptur des Spätmittelalters war 1943 bei einem schweren Erdbeben auf den Weibermarkt herabgestürzt und schwer beschädigt worden.
Gemäß chronikalischer Überlieferung markierte die Anbringung der Engelsfigur am 5. August 1343 den Abschluss der 96-jährigen Bauzeit an der heutigen Hauptkirche Reutlingens. 700 Jahre später, am 28. Mai 1943, erschütterte ein nächtliches Erdbeben die bis dahin noch nicht von Bomben heimgesuchte Stadt. Der Engel fiel. Die Notzeiten der Kriegs- und Nachkriegsjahre verhinderten eine zeitnahe Restaurierung des wertvollen Kunstwerks.
Im Rahmen des Wiederaufbaus der 1945 durch Luftangriffe und Kampfhandlungen stark zerstörten Achalmstadt konnte 1950 auch die Wiederherstellung der Turmspitze in Angriff genommen werden. Vom Planungs- und Hochbauamt vorbereitet, beschloss die Technische Abteilung des Gemeinderats im Februar 1950 entsprechende Empfehlungen. Die finanzielle Hauptlast dieser Sanierungsmaßnahmen übernahm die Stadt. Der Gemeinderat stimmte den Maßnahmen am 14. Juli einstimmig zu.
Den Engel hatte Kunstschlossermeister Franz Assfalg im März in Ehingen an der Donau repariert. Im Juni wurde er an der Fachschule für Edelmetallindustrie in Schwäbisch Gmünd neu vergoldet. Für die Restaurierung der Turmspitze wurde diese durch das Zimmergeschäft Gustav Eisele in schwindelerregender Höhe eingerüstet. Nach Modellen des Bildhauers Richard Raach erfolgte vor Ort der Guss zweier neuer Kreuzblumen in »Kunststein«.
Zeichen des Wiederaufbaus
Am Dienstag, 18. Juli, wurde der Engel im Turm zur Glockenstube hochgezogen, über die Treppen bis zum Baugerüst hochgetragen und mittels eines Flaschenzugs zur Turmspitze befördert. Diese »Himmelfahrt« sowie die Installation der Figur auf der dafür vorgesehenen Drehwelle übernahm die Schlosserei Katz. Die Lokalpresse beschrieb die Rückkehr des Engels am Folgetag geradezu euphorisch: »Jetzt, wo all das Schwere überwunden ist und wo ringsum wachsende Mauern den hoffnungsvoll begonnenen Wiederaufbau künden, da ist er wiedergekehrt und grüßt im goldenen Gewand die Reutlinger.« Zum 75-jährigen Jubiläum der Wiederanbringung zeigt das Reutlinger Stadtarchiv vor seinen Diensträumen im Rathaus-Erdgeschoss eine Wandvitrinenausstellung zum Turmengel. Zu sehen sind unter anderem Fotografien, etwa mit der kahlen Turmspitze über den Kriegsruinen der mittleren Wilhelmstraße oder ein Brief Richard Raachs zur Matrixform für den Guss der neuen Kreuzblumen.
Ein Gemeinderatsbeschluss dokumentiert schließlich den Wunsch nach einem »Filmarchiv«: Die Verwaltung hatte städtische Ereignisse wie die Rückkehr des Engels oder das Kinderfest 1950 erstmals auf »Schmalfilm« festhalten lassen. Die Ausstellung kann zu den Öffnungszeiten der Rathaus-Eingangshalle bis Ende Oktober besichtigt werden. (eg)