REUTLINGEN. »Selbst das Ende des Krieges durch den Einmarsch der französischen Truppen am 20. April 1945 brachte für die Stadt in den ersten Stunden nicht Frieden, sondern noch einmal Zerstörung und Gewalt«, schreibt Ute Ströbele im 1995 erschienenen Ausstellungskatalog »Reutlingen 1930-1950« vom Heimatmuseum und Stadtarchiv. So erinnert sich auch die fast 86-jährige Else Reicherter beim Thema Kindheit im Astfalk-Haus in der Charlottenstraße vor allem an Zweierlei: Wie sich ihre Mutter beim Besuch alliierter Soldaten auf dem Dachboden versteckt hat – aus Angst vor Vergewaltigung.
Sie selbst linste naseweis hinter dem Rockzipfel ihrer Oma vor, denn als knapp Sechsjährige hat sie da erstmals einen Mann mit schwarzer Hautfarbe gesehen. Der griff sich die Gitarre ihres Onkels und sang ihr ein Lied. Beim Durchblättern des schwarzen »Gedenkbuch« der Stadt von 1999 mit Namen ziviler Opfer der Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945 und der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs hebt sie außer ihrem beim Russlandfeldzug 1944 getöteten Vater auch den Namen des Großonkels hervor: Erwin Astfalk aus der Albstraße haben Soldaten der Besatzungsmacht am 21. April 1945 auf offener Straße erschossen. Eine Nachbarin, die er einst rügte, als sie ihre Fenster nicht wie vorgeschrieben abgedunkelt hatte, habe ihn »bei den Franzosen angeschwärzt«.
Chaos-Tage nach dem Einmarsch
Die ersten drei Tage nach dem Einmarsch waren schlimm. Das bestätigt der 87-jährige Hans Dieter Ankele. »Die waren freigegeben für Plünderungen und Vergewaltigungen.« Historikerin Christine Glauning bestätigt: »Die Verhältnisse waren chaotisch.« Beschlagnahmungen und Erschießungen »verbreiteten Angst und Schrecken in der Bevölkerung«, nachdem Verantwortliche der Nazi-Diktatur die Stadt verlassen hatten, und – anders als die amerikanischen Besatzer – »die Franzosen relativ unvorbereitet nach Deutschland kamen«.
Auch der älteste Reutlinger Metzger, Horst Walter, hat Luftangriffe, Einmarsch und Nachkriegszeit als kleiner Junge hautnah miterlebt. Bei der Gruppenvergewaltigung seiner 34-jährigen Nachbarin durch »fünf Marokkaner mit Maschinengewehren« lag er im Versteck auf dem Boden einer Gartenhütte im Hohbuch direkt neben ihr. »Ich höre heute noch ihre Schreie«, sagt der 90-Jährige, der in der großelterlichen Metzgerei Adolf Müller im Reutlinger Federnsee aufgewachsen ist.
Deshalb wurden damals Mädchen und junge Frauen wie Elses Mutter versteckt. Auch Ankeles älteste Schwester »war oben auf dem Dachboden im dreckigsten Eck, schwarz beschmiert, sodass man sie nicht finden konnte«. Doch »da war der Krieg auch noch nicht zu Ende«, sagt er. Offiziell kapitulierte das nationalsozialistische Deutschland mit der Wehrmacht erst heute vor 80 Jahren.
Das Chaos jener Tage nutzten auch Kinder: »Drunten in der Stadt plünderten die Menschen das Versorgungs- und Proviantamt an den Bösmannsäckern auf der verzweifelten Suche nach Essen, und wir haben die Kasernen im Ringelbach gestürmt.« Dort waren jede Menge Waren gelagert: weiße Ski als Nachschub für deutsche Soldaten, die in Russland kämpfen mussten und »komplette Ausrüstungen fürs Afrikakorps«, dem sein Bruder angehörte. Als kleinster und schwächster der Clique habe er »mit Ach und Krach einen Tropenhelm gerettet«.
Besatzer in Privathäusern
Zeitlich könne er manches nicht genau einordnen, gesteht der 87-Jährige. Er meint, die kämpfende Truppe waren Marokkaner, nur die Offiziere Franzosen, und erst später kamen die Amerikaner. Für seinen Freund Günther Schaupp (86) ist die Erinnerung an sie mit Süßigkeiten verbunden: »Schokolade hab’ ich das erste Mal von den Amis bekommen. Die waren uns Buben gegenüber freundlich.«
Dietmar Schüles (88) Vater war vor 80 Jahren bei Esslingen in amerikanischer Gefangenschaft. Nachdem ihn die Familie zur Fuß über die grüne Zonengrenze zurückgeholt hatte, stand sie vor dem Problem, dass die Lebensmittelmarken nicht für einen weiteren Esser reichten.
Von Armut berichtet auch Horst Walter, dessen Vater in französischer Gefangenschaft verhungert ist. Später habe 1945 »ja gar nichts mehr funktioniert«, sagt Schaupp. »Jeder versuchte einfach, irgendwie über die Zeit zu kommen. Die Eltern sind zu Fuß auf die Alb hoch mit Bettwäsche und haben gehamstert« – Luxusgüter gegen Essbares eingetauscht.
Hermann Heinzelmann beschreibt in seinen Familien-Erinnerungen, wie in deren Haus in der Planie eine Kommandantur einzog. »Aber wo sollten wir in Zukunft leben?« – »Kellär« war die Antwort. Annemarie Sauer erzählt, wie ihre Mutter immer wieder sagte, »wenn das so weitergeht, spring’ ich ausm Fenster«. Im großelterlichen Haus bedrohten die häufig alkoholisierten Besatzer Frauen und Kinder auch mal mit Waffen. Der Familie samt Mietern und Flüchtlingen blieben im Obergeschoss nur drei Kochplatten.
Viele Menschen, die 1945 klein waren, erinnern sich an die »Hoover-Speisung« in Schulen: »Die Milchsupp’ han i kenna ed essa«, sagt Schaupp. Obwohl er Hunger hatte. Eingeweichte Nudeln, in süß. »Fürchterlich«, murmelt Ankele. »So ein Matsch«, sagt seine Frau Hanne. (GEA)