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Was Pfullinger Christen unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkriegs bewegte

Was es mit dem Flugblatt der »Deutschen Christen« kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs auf sich hat.

Im Gasthaus Lamm (links) hat sich die Ortsgruppe der »Deutschen Christen« das ein oder andere mal getroffen.  FOTO: BURGEMEISTER
Im Gasthaus Lamm (links) hat sich die Ortsgruppe der »Deutschen Christen« das ein oder andere mal getroffen. FOTO: BURGEMEISTER
Im Gasthaus Lamm (links) hat sich die Ortsgruppe der »Deutschen Christen« das ein oder andere mal getroffen. FOTO: BURGEMEISTER

PFULLINGEN. Vor rund 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Aus diesem Anlass hat der Pfullinger Geschichtsverein in diesem Jahr darauf einen Schwerpunkt gesetzt. Passend dazu bot der Historiker Rudolf Renz vor Kurzem in einem Vortrag im Anschluss an die Mitgliederversammlung des Vereins Einblick in die Pfullinger Ortsgruppe der Glaubensbewegung der »Deutschen Christen« (GDC). Ende März 1945, wenige Wochen vor dem Einmarsch der Franzosen, tauchten in der Region Flugblätter mit der Überschrift »Warum schweigt Gott?« auf. Erstellt wurden sie damals von der Pfullinger Ortsgruppe der GDC. Ein Exemplar davon wurde im Archiv des Arbeitskreises Geschichte Metzingen gefunden. Aber wer steckte hinter dieser Glaubensbewegung?

- Wer oder was sind die »Deutschen Christen«?

1927 gründeten in Thüringen zwei Pfarrer die »Deutschen Christen«, die eine überkonfessionelle Nationalkirche, orientiert an der NS-Ideologie, anstrebte. Sie verbanden völkisches, nationalistisches und rassistisches Gedankengut mit dem christlichen Glauben. 1932 wurde die GDC als innerevangelische Kirchengruppe für das ganze Reich gegründet. Auch in Pfullingen gab es eine Ortsgruppe, die unter dem Motto »Heil Jesus! Heil Hitler!« ihre Versammlungen und Gottesdienste abhielt, erklärt Renz.

In den programmatischen Richtlinien der GDC vom Mai 1932 heißt es: »Wir sehen in Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott geschenkte und anvertraute Lebensordnungen, für deren Erhaltung zu sorgen uns Gottes Gesetz ist.«

- Worum ging es in dem Flugblatt, das in der Region verteilt wurde?

»Warum schweigt Gott?«, so lautete der Titel des Flugblattes, das Ende März 1945 kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Region verteilt wurde. Es endete mit dem Satz: »Wir werden siegen, und wenn die Welt voll Teufel wär. Im Namen deutscher Christen.« Die Verfasser des Blattes forderten, dass Gott zu dem »furchtbaren« Krieg, der am 1. September 1939 in »unserem herrlichen Europa« entfesselt wurde, nicht länger schweigen soll. Die Autoren behaupteten, dass sie »reinen Herzens, gläubig und gottesfürchtig in den Krieg« gegangen waren. Sie beklagen die »verfluchten und unbarmherzigen Mörder unserer wehrlosen Frauen und Kinder und die Zerstörung unserer Heimat und unserer Häuser« und vergessen, dass die deutsche Luftwaffe mit den Bombenangriffen auf Warschau, Rotterdam und Coventry den Luftkrieg begonnen hatte, hebt Renz hervor.

- Was ist zu den Hintergründen der Flugblatt-Verfasser bekannt?

Es gibt keine genauen Hinweise darauf, wer das Flugblatt verfasst hat. Eines sei jedoch sicher, sagt Renz: Der oder die Schreiber wussten zwar nicht im Detail, was an den Kriegsfronten seit 1939 geschah, doch sie kannten und akzeptierten die Rassenideologie des Dritten Reiches, die Verherrlichung des Ariers, die Diffamierung und Verfolgung des so genannten »jüdischen Untermenschen«. Sie wussten um und unterstützten die »Nürnberger Gesetze« vom September 1935, die den deutschen Juden die bürgerliche Gleichberechtigung entzogen und »rassische Mischehen« verboten.

Sie wussten, dass Tausende jüdische Männer, darunter der Metzinger Adolf Herold (1885–1942), verhaftet und in Konzentrationslager gesteckt wurden. Sie wussten, dass dort viele starben. Laut Renz muss den Flugblatt-Verfassern bekannt gewesen sein, dass in den vielen Lagern Menschen aus politischen und rassistischen Gründen inhaftiert waren, gefoltert und ermordet wurden. Allein aus Metzingen, Neuhausen und Glems wurden im Jahre 1940 elf Personen in Grafeneck ermordet. In Pfullingen waren es zwölf Personen, wie Pfullingens Stadtarchivar Stefan Spiller dokumentierte.

- Was war die Intention der Flugblatt-Verfasser? (Betrachtung des Historikers Rudolf Renz)

Vermutlich hatten die Flugblatt-Verfasser wie die große Mehrheit der Deutschen Angst vor der bald zu erwartenden Niederlage. Letztlich wussten oder ahnten sie, dass die von der Wehrmacht eroberten Länder nicht unversehrt geblieben waren, führt Renz auf. Nun fürchteten sie, dass die Alliierten, die im März 1945 schon an allen Fronten weit ins Reichsgebiet vorgestoßen waren, sich an den Deutschen rächen würden. Doch sie verdrängten ihre Schuldgefühle, ergingen sich in Selbstrechtfertigung. Ihre existenzielle Unsicherheit endete in Selbstmitleid und einer verzerrten Sicht bis hin zum Realitätsverlust, ist sich Renz sicher. Jetzt waren für sie nur die Deutschen die Opfer. Die meisten Deutschen, nicht nur die deutschen Christen, beherrschte in den letzten Kriegswochen und in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Angst vor Vergeltung. Haben Sie wirklich geglaubt, dass ihr Gott all das gut heißen würde, was im deutschen Namen geschehen war und ER ihnen deshalb noch in letzter Minute zum Sieg verhelfen würde? Wohl kaum, schließt Renz. (GEA)

 

GESCHICHTSVEREIN

Im Rahmen des Schwerpunkts »80 Jahre Kriegsende des Zweiten Weltkrieg« bietet der Pfullinger Geschichtsverein am Donnerstag, 15. Mai, einen Vortrag zum Thema »Die ersten Nachkriegsjahre: Zwischen Entnazifizierung und demokratischen Neubeginn«. Los geht dieser um 19 Uhr im Saal des Sanmariterstifts. (GEA) www.geschichtsverein -pfullingen.de