PFULLINGEN. Heutzutage ist Homosexualität kein Verbrechen mehr, vor nicht all zu langer Zeit jedoch wurden Menschen, die romantisches Begehren gegenüber Personen des eigenen Geschlechts haben, noch bestraft und verfolgt. Vor allem in Zeiten des Nationalsozialismus war es der Paragraf 175, der die »widernatürliche Unzucht« unter Strafe stellte. Drei Pfullinger Persönlichkeiten erlebten die Konsequenzen daraus am eigenen Leibe. Ihre Leiden hat Pfullingens Stadtarchivar Stefan Spiller aufgearbeitet.
- Louis Laiblin (1861–1927)
Ein früher Fall, der mit den Möglichkeiten einer großbürgerlichen Familie sicher nicht an die Öffentlichkeit dringen sollte, war die Verurteilung des Pfullinger Mäzens Louis Laiblin im Jahre 1884 zu einer dreiwöchigen Gefängnisstrafe wegen eines Vergehens gegen den Paragrafen 175. Vermutlich tief erschüttert in der Selbstverständlichkeit seiner bürgerlichen Existenz lässt sich darin einer der Motivstränge für Laiblins herausragendes Mäzenatentum vermuten: Die Verleihung des Titels eines Geheimen Hofrats im Jahr 1917, die ihm von höchster staatlicher Stelle für sein Engagement zuteil wurde, dürfte für ihn auch einer gesellschaftlichen und persönlichen Rehabilitierung gleichgekommen sein. Sehr gezielt hatte Laiblin auf diese Verleihung hingearbeitet, mit der der Makel seines »Vergehens«, um dessen Löschung er zuvor noch einmal offiziell nachsuchen musste, nun endgültig getilgt zu sein schien.
- Carl Schlegel (1863–1922)
Einer der Pioniere der Emanzipation von Homosexuellen in den USA, Carl Schlegel, stammte aus Pfullingen. Als der Sohn des Pfullinger Kronenwirts und Gemeinderats Johann Friedrich Schlegel (1831–1890) und seiner Frau Christine (1834–1876) im Herbst 1878 nach Amerika auswanderte, konnte von seinem Aktivismus jedoch noch keine Rede sein: Am 30. August 1878 hatte er im Pfullinger Gemeinderat um Entlassung aus dem Gemeinde- und Staatsbürgerrecht nachgesucht und seine Auswanderungsabsicht damit begründet, dass er in New York in die Konditorei eines Onkels eintreten könne.
In New Jersey studierte Schlegel dann Theologie und wurde 1896 Pfarrer einer deutschen protestantischen Gemeinde. Ein Historiker zeigt Schlegels Nähe zum deutschen Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) auf, dessen Ziel es war, die Öffentlichkeit über Homosexualität aufzuklären. Schlegel besuchte 1903 bei einer Deutschlandreise eine Sitzung des WhK-Komitees, wohl auch in der Absicht, in New York einen Ableger zu gründen.
DIE VERFOLGUNG HOMOSEXUELLER MENSCHEN
Ein historischer Überblick
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich die Verfolgung homosexueller Menschen im Königreich Württemberg nachvollziehen. Damals hatte die Constitutio Criminalis Carolina bestand und auf Homosexualität stand die Todesstrafe. Nach dem Ende des alten Reiches 1806 zeichnete sich im Zuge der großen Rechts- und Verwaltungsreform eine Entkriminalisierung der Homosexualität ab und die »widernatürliche Unzucht« wurde nur noch im Falle eines »erregten öffentlichen Ärgernisses« oder auf Klage eines Missbrauchten unter Strafe gestellt. Mit dem nach der Reichsgründung für alle verbindlichen Reichsstrafgesetzbuch (1872 in Kraft getreten) setzte jedoch erneut eine Verschärfung ein: Fußend auf dem Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 sah der Pragraf 175 eine Gefängnisstrafe für »widernatürliche Unzucht« und die Möglichkeit einer Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte vor. In der während der NS-Zeit verschärften Fassung hatte der Paragraf 175 noch lange Jahre im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Bestand und wurde vollends erst 1994 aufgehoben. Schon seit dem 19. Jahrhundert gab es jedoch auch Bestrebungen homosexueller Aktivisten, die staatlichen Repressionsmaßnahmen nicht einfach hinzunehmen, sich für Emanzipation und Organisation Homosexueller einzusetzen. (GEA)
Überschattet wurde diese Reise kurz darauf von Schlegels Verhaftung in Schwäbisch-Gmünd im September 1903. Vermutlich führte ihn ein Familienbesuch in diese Gegend. Nach einer kurzen Notiz des Gmünder Tagblatts stand bei seiner vorübergehenden Inhaftierung ein Vergehen gegen den Paragrafen 175 im Raum. Der genaue Sachverhalt lässt sich heute mangels Quellen nicht mehr ermitteln.
Im Oktober 1903 konnte Schlegel wieder nach New York zurückkehren. Für seine kirchliche Amtsausübung scheint der Vorfall keine Konsequenzen gehabt zu haben. Anfang 1905 trat Schlegel jedoch von seinem Amt in New York zurück und wurde ohne Angabe von Gründen in eine deutsche Kirchengemeinde im rund 2.000 Kilometer entfernten New Orleans versetzt. Um die Jahreswende 1906/07 zeichneten sich aufgrund seiner Haltung zur Homosexualität zunehmend Spannungen mit seiner Gemeinde ab, deren Leitungsgremium eine Untersuchung gegen ihn anstrengte. Unter anderem wurden ihm die Verbreitung unmoralischer Lehren im Widerspruch zum Wort Gottes, die Verteidigung der Natürlichkeit und Rechtmäßigkeit von Homosexualität zu Last gelegt. Auch die Verbreitung von Schriften des WhK in den Kreisen der Kirche wurde als Vorwurf erhoben.
Schlegel selbst hatte bereits vor Beginn der fünf Sitzungen des kirchlichen Untersuchungsausschusses sein Amt niedergelegt und war 1907 nach New York zurückgekehrt. In schriftlichen Stellungnahmen verteidigte er seine Position. In der letzten Sitzung am 29. Januar 1907, in der er schließlich offiziell seines Amtes als Pfarrer enthoben wurde, zitierten ihn seine Ankläger mit den Worten: »Die gleichen Gesetze sollten für alle Zwischenstufen des Sexuallebens: Homosexuelle, Heterosexuelle, Bisexuelle, Asexuelle so legal sein, wie sie jetzt für Heterosexuelle gelten.« In New York wandte sich der mutige Vorkämpfer für die Gleichberechtigung aller Formen menschlicher Sexualität dem Spiritismus zu.
- Fritz Goltermann (1909–1985)
Ein späterer Bewohner der Villa Laiblin, der gebürtige Bochumer Fritz Goltermann, sah sich im Zuge der 1935 verschärften Fassung des Paragrafen 175 und der Ächtung männlicher Homosexualität, die unter anderem als Gefahr für die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik betrachtet wurde, den massiven Repressionsmaßnahmen des NS-Verfolgungsapparats ausgesetzt. Fritz Goltermann war 1936 von der Gestapo unter dem Vorwurf »unzüchtiger Handlungen« mit Männern festgenommen worden und schließlich zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten Haft verurteilt worden, die er bis zum letzten Tag in Gelsenkirchen absitzen musste. In diesem Verfahren wird auch deutlich, wie die Ermittlungsbehörden weitere Beschuldigte so unter Druck setzten, dass sie in den Besitz möglichst vieler Namen kamen, um weitere Ermittlungen anzustrengen.
Nach seiner Entlassung im Frühjahr 1938 sah sich Goltermann seiner beruflichen Existenz als Beschäftigter bei der Reichsbahn beraubt, eine mögliche Perspektive beim Militär blieb ihm aufgrund des Strafeintrags in seiner Personalakte ebenfalls versagt. Mehrmals wechselte er seinen Wohnsitz: Von Bochum über Bad Ems und Lindau nach Österreich mit Stationen in Innsbruck und Salzburg. Dabei stand er stets unter Beobachtung der deutschen Ermittlungsbehörden, die die jeweils örtlichen Behörden über sein »Delikt« in Kenntnis setzten. In Innsbruck hatte Fritz Goltermann seine Lebenspartnerin Liesel Dölle (1910–2010) kennengelernt, mit der er 1948 nach Pfullingen zog. 1963 heirateten die beiden.
In Pfullingen betätigte sich Fritz Goltermann als selbstständiger Klavierlehrer, da einer Bewerbung als Musiklehrer im öffentlichen Dienst vermutlich seine Vorstrafe im Wege gestanden hätte. Liesel Goltermann konnte mit ihrer Tätigkeit als Sport- und Gymnastiklehrerin am Reutlinger Isolde-Kurz-Gymnasium den Unterhalt des Paares sichern, das Anfang der 1970er-Jahre in die Villa Laiblin zog. Goltermann starb 1985 im Alter von 75 Jahren, während seine Frau noch nach ihrer Pensionierung eine Yoga-Schule gründete. An Goltermanns Schicksal erinnert in Bochum ein Stolperstein. (GEA)
JÜRGEN WENKE
Der Diplom-Psychologe Jürgen Wenke setzt sich in seiner Heimatstadt Bochum dafür ein, dass auch Menschen, die aufgrund ihrer Sexualität in NS-Zeiten verfolgt wurden einen Stolperstein bekommen. Auch der Pfullinger Fritz Goltermann hat in Bochum einen solchen Stein bekommen. Außerdem hat er eine umfassende Darstellung des Goltermanns Falls verfasst. (GEA) www.stolpersteine-homosexuelle.de