TÜBINGEN. Um 18.30 Uhr ist am Stadtgraben kein Durchkommen mehr. Nach Polizeiangaben rund 300 linke Aktivisten aus verschiedensten Gruppen haben die Straße und vor allem den Eingang zum Kino Museum blockiert. Dort soll um 19 Uhr eigentlich das Bundestagswahl-Podium des Schwäbischen Tagblatts starten. Eine Einladung fürs Podium haben die Kandidaten von CDU, SPD, FDP, Grünen, Linken und AfD erhalten. Doch die Einladung des AfDlers Daniel Winkler passt den linken Aktivisten gar nicht.
Tagelang hatten also linke Gruppen aus der ganzen Umgebung vor allem über Soziale Medien zum Protest mobilisiert. Sie forderten, dass das Tagblatt Winkler auslädt. Federführend: das Offene Treffen gegen Faschismus und Rassismus für Tübingen und Reutlingen (OTFR), das vom Verfassungsschutz Baden-Württemberg als »linksextremistisch« eingestuft wird. Aber auch Mitglieder von ROSA Reutlingen, Fridays for Future Reutlingen und den Omas gegen Rechts sind an diesem eiskalten Februarabend in der Menge vor dem Kino zu finden. Der Protest beginnt gegen 18 Uhr noch recht harmlos mit einem Redebeitrag auf der Nonnenhaus-Seite der Straße. Die Rednerin wirft dem Tagblatt »Selbstüberschätzung und Ideenlosigkeit« vor, dass man die AfD auf solchen Podien »entzaubern« könne, sei illusorisch.
Dann blockieren Mitglieder der Antifa die Straße - und die Demonstranten bahnen sich ihren Weg über die Straße in Richtung Museum. Rund ein Dutzend Polizisten und ein paar Security-Kräfte haben zu Beginn ihre liebe Mühe, die Menschen davon abzuhalten, ins Gebäude zu gelangen. Es kommt zu Rangeleien. Der Verkehr ist nun völlig lahmgelegt, Passanten beobachten den Tumult. Menschen, die eigentlich zum Podium kommen wollten, drehen kopfschüttelnd wieder um. Sie haben keine Chance, ins Gebäude zu kommen. Die Antifa-Aktivisten blockieren auch Seiteneingänge. Nur mit Hilfe von zwei Polizisten schaffen es Journalisten und der CDU-Kandidat Christoph Naser ins Gebäude. Er kann über die Blockade nur den Kopf schütteln und kritisiert, dass Tübinger nun daran gehindert wurden, sich per Podium eine Meinung zu bilden.
»Den Kandidaten der AfD einzuladen, gehört zu den demokratischen Spielregeln«
Am 4. Februar erst hatte eine ähnliche Mobilisierung der linken Gruppen über Soziale Medien bereits Folgen gezeigt: Das Wahlpodium der überparteilichen Gruppe Studopolis im Tübinger Sudhaus war »aus Sicherheitsgründen« kurzfristig abgesagt worden. Doch das Tagblatt hatte im Voraus nicht klein beigegeben, obwohl das Ausmaß des Protests absehbar war. »Die AfD ist in den Umfragen die zweitstärkste Partei. Ihren Kandidaten einzuladen, gehört zu den demokratischen Spielregeln«, sagt der stellvertretende Tagblatt-Chefredakteur Ulrich Janßen dem GEA im Inneren des Gebäudes. Gemeinsam mit weiteren Redakteuren und Organisatoren beobachtet er das Geschehen, das sich vor der Türe abspielt. Die Polizei sichert weiter das Gebäude.
Auch bei den vergangenen Tagblatt-Podien sei die AfD eingeladen gewesen, sagt Janßen weiter - »und es hat nicht dazu geführt, dass in Tübingen signifikant mehr Leute AfD gewählt haben«. Als er das Podium vor den rund 50 Zuhörern eröffnet, die es trotz Blockade ins Gebäude geschafft haben, sagt er: »Sowas hab' ich noch nie erlebt.« Tagblatt-Geschäftsführer Tim Hager betont gegenüber dem GEA: »Es wäre das absolut falsche Signal gewesen, abzusagen. Wir haben als Zeitung eine Verantwortung für die Demokratie und wollen einen Diskurs zulassen.« Das Tagblatt streamt das Podium sowieso live - wer nicht rein gekommen ist, kann also daheim zuschauen. Trotzdem ist die Stimmung von Fassungslosigkeit geprägt.
»Das ist eine einzige AfD-Werbeveranstaltung«
FDP-Kandidat Julian Grünke sagt: »Das ist eine einzige AfD-Werbeveranstaltung. Die AfD kann sich danach wieder als Opfer inszenieren.« SPD-Kandidat Florian Zarnetta findet grundsätzlich Protest gegen die AfD sinnvoll. »Aber es ist absolut nicht sinnvoll ein Podium zu blockieren. Das nimmt ja auch allen anderen demokratischen Parteien die Möglichkeit des Austauschs.« So sieht das auch die Grünen-Kandidatin Asli Kücük. Nur der Linken-Kandidat Ralf Jaster ist anderer Meinung: »Ich teile die Position des Tagblatts nicht«, sagt er dem GEA. »Der Protest ist absolut legitim. Es ist falsch, einer faschistischen Partei auf dem Podium einen Platz zu geben.« Nach Beginn des Podiums beruhigt sich die Lage draußen recht schnell und die Demonstranten ziehen in Richtung Bahnhof ab. (GEA)
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